Nur ein schlechter Traum?
(von Bernd Wolff (Leiter der AG-Schildkröten) - erschienen in der Minor (Infobrief der DGHT_AG Schildkröten) 4.Jahrgang - Heft1 - Februar 2005
mit Genehmigung des Autors darf ich diese Geschichte hier veröffentlichen)

Wo bin ich? Ich sitze in einem dunklen Raum und habe keine Orientierung. Plötzlich bekomme ich von hinten einen kräftigen Schlag auf die Schulter. Sofort drehe ich mich um und sehe im Halbdunkel eine ungewöhnlich große Riesenschildkröte vor mir stehen. Sie öffnet das Maul und spricht mit tiefer Stimme: „Mitkommen!“ Ungläubig schaue ich sie an und schüttle verneinend den Kopf. Mit barschem Befehlston wiederholt sie ihre Aufforderung und zeigt links und rechts neben sich. Da erkenne ich zwei riesige Schnappschildkröten, die drohend ihr Maul aufreissen und deutlich hörbar auch „Mitkommen!“ zischen. Ich beuge mich der Gewaltandrohung und folge der Riesenschildkröte, flankiert von den beiden Wächtern.
Wir durchschreiten eine Tür und betreten einen großen Saal, der von gleissendem Licht durchflutet wird. Nach einiger Zeit erkenne ich auf den Zuschauerrängen viele Schildkröten, die dort lärmend Platz genommen haben. Jetzt sehe ich auch, dass es sich um einen Gerichtssaal handelt, denn auf der Anklagebank sitzt eine bissige Weichschildkröte als Staatsanwalt.
Die Riesenschildkröte nimmt den Platz des Richters ein und wird von je einer Strahlen- und einer Geierschildkröte als Beisitzer flankiert. Ich sitze auf der Anklagebank ohne Anwalt.
Es wird totenstill im Saal, denn der Richter hat die rechte vordere Pfote gehoben. Mit klarer sauberer Stimme beginnt er zu sprechen: „Nachdem die Menschheit uns unser letztes Geheimnis entrissen hat, haben wir nichts mehr zu verbergen. Jahrtausende lang haben wir versucht, den Eindruck zu erwecken, stumme, dumpfe und träge Tiere zu sein. Aufmerksame Menschen haben aber leider erkannt, dass wir sehr gesellig sind, miteinander korrespondieren und sogar Familienbande eingehen. Nun wollen wir unsere Stimme dafür erheben, unsere Rechte einzufordern. Stellvertretend mit dir…“, dabei schaut er mir tief in die Augen,“… wollen wir Anklage über die Menschheit erheben!“ Die vertrauliche Ansprache beruhigt mich zwar etwas, aber ich habe doch ein mulmiges Gefühl.
Der äußerst aggressive Staatsanwalt Weichschildkröte ruft jetzt Zeugen auf, die mich mit
Vorwürfen überschütten. „…ihr entnehmt uns direkt zu Hause aus unseren trauten Familien!“, klagt ein Männchen der Maurischen Landschildkröte. Seine neben ihm stehende Frau seufzt: “Ach, ich möchte meine Basen und Vettern auf Sardinien wieder sehen…“.
Eine Breitrandschildkröte brüllt mich an: „Ihr beobachtet und fotografiert uns beim Sex und veröffentlicht die Bilder. Bei euch geschieht so etwas heimlich oder es wird damit sogar Geld verdient!“
Und es folgen weitere Klagen: „Ständig werden wir hoch gehoben und die Geschlechtsteile werden betrachtet.“ (Unruhe im Saal); „…immer nur das Grünzeug, ihr esst aber Hamburger…“.
Eine Wasserschildkröte klagt, dass ihr der Schildkrötenpudding schon längst zum Halse raus hängt und sie würde alles dafür geben, mal wieder ein richtig schönes stinkiges Stück Fisch fressen zu dürfen. Ein älteres Pärchen der Griechischen Landschildkröten tritt hervor und es wird dramatisch, denn sie klagen mit leiser Stimme: „Ihr nehmt uns die Eier weg und wir wissen nicht, was damit geschieht. Es ödet uns an, immer nur die blöden Gesichter unserer Nachbarn im viel zu engen Gehege zu sehen!“
Jetzt unterbricht der Richter die Anklage und äußert, ohne mich zu fragen, die Meinung, dass die Anklage in allen Punkten zutrifft. Ich solle das Strafmaß stellvertretend für alle Schildkrötenhalter bekommen. Dazu fordert er das Publikum auf, Vorschläge zu machen.
Es prasselt nur so auf mich ein: „…Panzer drüberziehen…“; „…auf Pudding umstellen. Ist doch alles drin!“; „…zu Suppe verarbeiten. Nachhaltigkeit ist kein Problem, der Menschenbestand ist gesichert!“
Jetzt bekomme ich es doch mit der Angst zu tun und will um Hilfe rufen. Direkt nach meinem ersten Hilferuf bekomme ich einen heftigen Schlag in die linke Seite und höre eine eindringliche Stimme sagen: „…habe dir schon immer gesagt, du sollst auf dem Schildkrötentreff nicht so schwer essen. Sonst träumst du wieder solches wirres Zeug….!“. Ich erkenne die Stimme meiner lieben Frau, ich erkenne das schummrige Hotelzimmer und schlafe wieder ruhig und traumlos ein.